In letzter Zeit habe ich immer öfter den Eindruck, dass Menschen unter dem Begriff „Agile“ verstehen, dass jeder im Unternehmen machen kann, was er will. Damit einher geht oftmals die Meinung, dass „Führung“ im agilen Kontext obsolet ist. Beides sehe ich anders und hätte gerne gewusst, ob ich mit meiner Wahrnehmung allein bin.
Gescholten wird viel und schnell, was allerdings nicht weiterhilft. „Die Führungskräfte“ werden über einen Kamm geschoren und es wird ihnen allenthalben eine gewisse Altbackenheit und mangelnde Flexibilität unterstellt, das möchte ich so nicht stehen lassen. Meine Erkenntnis: „Alles zu seiner Zeit“ und so benötigt jeder Führungsstil seinen Kontext. Will heißen, es muss die geeignete Umgebung in den Unternehmen erschaffen werden, damit ein zeitgemäßes Führen möglich ist. Das beginnt bei strukturellen Veränderungen in Organisationen, über mehrere Karrierepfade, bis hin zur aktiven Begleitung von Führungskräften und dem Bewusstsein aller, dass man Führung nicht „eben so nebenbei“ erledigen kann. Das wurde viel zu lange so praktiziert und mein Augenmerk richtet sich auf all diejenigen, die Führungskräfte installiert haben, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob die Ausgesuchten das können und wollen.
Die Druckwelle der Stapelkrise
Als Organisationsentwicklerin und Coach für Führungskräfte beobachte ich das Phänomen, dass Menschen in Unternehmen zusehends unter der Geschwindigkeit der Digitalisierung ächzen und sich mittlerweile, von den sich überschlagenden Ereignissen, denen wir alle ausgesetzt sind, nachgerade plattgewalzt fühlen. Der Druck ist immens und ich stelle die kühne These auf, dass je mehr Digitalisierung und Agilisierung in unseren Organisationssystemen Einzug hält, sich die Intensität mit der wir uns um die Menschen, die sich in diesen Organisationssystemen befinden, kümmern müssen, verstärkt. Ja, verstärken muss. Das, was gerade geschieht, setzt jedem zu. Von Babyboomer bis Generation Z muss jeder in seinem Resilienz-Korridor zurechtkommen. Das gelingt mal besser und mal schlechter. Und so ergeht es eben auch Führungskräften. Allzu oft wird das Offensichtliche nicht gesehen: Sie sind in erster Linie eins, nämlich Menschen.
Führungskraft – the next Generation
Unsere Aufgabe ist es nicht, Führungskräfte abzuschaffen, sondern wir müssen vielmehr nach den wirklich passenden Ausschau halten. Wir, das sind Unternehmenslenker und modern aufgestellte Personalabteilungen. Wir müssen nach Führungskräften, die die notwendigen Eigenschaften mitbringen, die es im agilen Kontext braucht, aktiv suchen oder sie entwickeln. Dabei spielt nicht das Alter der Führungskräfte, sondern vielmehr die Bereitschaft zur Veränderung die entscheidende Rolle. Die Führungskraft im Spanungsfeld des agilen Kontextes und der immerwährenden Disruption reüssiert in den Disziplinen: Mut, Lösungsorientierung, Transparenz, Verantwortungsbewusstsein und emotionale Intelligenz. Und vor allem: Sie will diese Rolle einnehmen und lässt sich nicht, mangels Alternativen, in sie hineindrängen.
Führungskräfte dürfen nicht länger allein gelassen werden, sie benötigen Sparringpartner. Sie brauchen die Möglichkeit und haben die Pflicht zur Selbstreflexion und auch die Erlaubnis zum Scheitern. Ich begleite angehende und amtierende Führungskräfte bereits seit einigen Jahren als Ausbilderin im Bereich „Agile Leadership“. Häufig kommt die Rückmeldung, wie hilfreich oder auch einfach entlastend es ist, jemanden zu haben, mit dem man sich austauschen kann. Der positive Side-Effekt: Allein schon das Bewusstsein, dass es anderen Führungskräften gleichermaßen ergeht, hilft weiter. Hilfe zur Selbsthilfe lautet das Credo und es funktioniert.
Die Erkenntnis
Mir scheint, dass endlich die Einsicht gereift ist, dass der Fokus bei der Auswahl geeigneter Kandidaten auch jenseits von Prädikats-Abschlüssen und exzellenter fachlicher Performance liegen muss. Gepaart mit der notwendigen Zeit, die es nun einmal braucht, um sich konstruktiv mit jedem seiner Mitarbeiter auseinander zu setzen, stellt das für mich eine Einsicht mit Gelingfaktor dar. Und nicht nur das, die präsente Führungskraft verbessert im besten Fall auch deren Arbeits- und Kommunikationsbeziehung untereinander, im Kontext der Organisation und der Prozesse. Eine Führungskraft, die als Katalysator dient und die Talente ihrer Mitarbeiter zutage fördert, sie unterstützt, ihnen Wege aber auch Leitplanken aufzeigt, dieser Führungskraft werden Mitarbeiter folgen, weil sie für sich darin einen Mehrwert sehen. Und wenn Menschen sich wohl, gefördert und respektiert fühlen, dann haben sie die nötige Kraft und Motivation, zur Höchstleistung aufzulaufen! – Auch die Führungskraft selbst.
Ich freue mich auf Reaktionen, Erfahrungen und Austausch zu diesem Thema!
Eva-Sabine Roßwaag
Autorin
Eva-Sabine Roßwaag, Senior Transformation Consultant bei der AppSphere AG, ist mit über 27 Jahren Berufserfahrung echte Expertin für die Transformation traditioneller Unternehmen in die Agilität. Mit Parallelstudium und Abschlüssen in Psychologie, BWL und Germanistik sowie langjähriger eigener Führungserfahrung, weiß Eva genau, wovon sie spricht, wenn sie heute Unternehmen und Organisationen im Bereich der digitalen Organisationsentwicklung begleitet. Auf Basis all ihrer Erfahrung und mit viel Herz, offenem Ohr und Verstand steht für sie ganz klar eines im Zentrum des Wirkens: der Mensch.